Anne stand vor dem Spiegel im Badezimmer, neben ihr auf der Ablage ein Wecker. Unerbittlich zuckte der Zeiger, gejagt und jagend, Angst einjagend schnell drehte er seine Runden, ihrer Geburtstunde entgegen. 60 Jahre. Sie schüttelte den Kopf.

In der Hand hielt sie ein Glas, gefüllt mit rubinroter Flüssigkeit, an dem sie hin und wieder nippte. Sie hatte das Gefühl, in einer Zeit-Raum-Blase hängen geblieben zu sein. War sie nicht erst gestern hier gestanden? Nicht hier, nein, vor einem anderen Spiegel, in einem anderen Raum, aber trotzdem, genau hier? Sie schaute auf den Wecker. Fünf Minuten. 

Vor 30 Jahren war das gewesen. Drei Jahrzehnte. Sie ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und versuchte, die Tragweite zu erfassen. 30 mal ein Jahr. Eine unfassbare Menge an Tagen, Stunden und Minuten waren zerflossen.

Damals hatten ihre Freunde mit ihr einen drauf machen wollen. Hey, den 30. musst du feiern. Sie hatte dankend abgelehnt, wollte den Sprung in ein anderes Zeitalter mit niemandem teilen. Was gab es da zu feiern? Schon Wochen vorher war ihr die Angst durch die Adern gekrochen wie schleichendes Gift. Über Nacht, so hatte sie es sich vorgestellt, würde ihr Körper altern, nicht mehr funktionieren, das Gehirn würde nachlassen, das Ende würde sich ankündigen. So stand sie vor dem Spiegel und zählte die Sekunden. Als die Uhr drei Uhr siebenundvierzig anzeigte, kniff sie die Augen zusammen, wartete darauf, dass die Welt zusammenstürzte und sie eine andere sein würde. Womit hatte sie gerechnet? Sie hatte geglaubt, zur anderen Seite zu gehören. Die Jugend zu verlieren, erwachsen zu sein, vernünftig, langweilig, mit einer klaren Idee im Kopf, wo die Reise hinging. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in ihr Gesicht im Spiegel. Die Welt hatte sich weitergedreht und nichts war geschehen.

Anders fühlte sie sich auch mit 60 nicht. Das Gesicht faltiger, das bestimmt. Trotzdem sah sie erstaunlich frisch aus, fand sie. Weiter aber fühlte sie sich unfähig wie eh und je, das Leben zu meistern. Es galoppierte dahin, zog sie hinter sich her wie einen unwilligen Hund an der Leine. Hier hin, dort hin, immer hinterher, niemals voraus, niemals saß sie am Steuer. Nach wie vor fühlte sie sich, als wäre sie eben erst von der Uni gekommen. Den Kopf voller Wissen, nichts, was ihr weiterhalf. Sie ging einen Pfad entlang, dessen Ende sie nicht kannte. Er lag im Dunklen. Beleuchtet war der nächste Schritt, manchmal nicht einmal der. Sie konnte das Ziel nicht ausmachen im Nebel der Zeit, zwischen den ohrenbetäubenden Störgeräuschen der Gegenwart. Aufstehen, Frühstück herrichten, früher mal die Kinder fertig machen, dann die Kinder antreiben, jetzt nicht einmal mehr das. Ehemann verabschieden, in die Arbeit fahren, sinnlose Dinge tun, später alles retour, hierhin, dorthin, Bedürfnisse befriedigen, Probleme lösen. Es war zu laut, um nach einem Sinn oder Ziel zu lauschen. 

In diesem Moment vor dem Spiegel war es still. Sie hörte in sich hinein, suchte nach einer Stimme, die ihr die Richtung angab. Sie wusste, dass sie an einer Kreuzung stand. Außer dem Klopfen ihres Herzens vernahm sie nichts. Was hatte sie erwartet? Eine Weisung Gottes? Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.

Irgendwo im anderen Zimmer lag Torsten und schlief. Er wandelte seit einer guten Weile in seinem eigenen Zeit- und Raumgefüge, sie trafen sich zufällig, wenn sich die Blasen zu nahe kamen. Ein flüchtiger Kuss, eine leise Berührung, ein Lächeln. Der letzte Kitt ihrer bröckeligen Beziehung hatte lärmend und mit Kisten bepackt das Feld geräumt und ließ nur noch gelegentlich von sich hören. Erfolg im Studium, ein neuer Job. Hatten Lebenslust und Freude mit in ihre Koffer gesteckt. Sinnlosigkeit kroch durch die Ritzen in das Haus wie dicker Rauch. Bald würde sie nicht mehr atmen können. 

Anne schaute auf den Wecker. Drei Uhr fünfundvierzig. Sie schnaubte, als sie an ihre Panik vor dreißig Jahren dachte.  Lächerlich. Nichts brach in sich zusammen, die Zeit tropfte weiter, tropfte und tropfte, wollte nicht aufhören. Schwerkraft zog die Haut nach unten. Grau wurde die alles beherrschende Farbe. Das erste graue Haar hatte sie mit 25 entdeckt und wutentbrannt ausgerissen. Beharrlich war es nachgewachsen, immer wieder. Hatte sich Unterstützung geholt. Anne strich sich durchs Haar, es war überraschend weich und lang. Musste man sich nach dem sechzigsten Geburtstag einen dieser Kurzhaarschnitte verpassen lassen? Ältere Frauen mit langen grauen Haaren gab es wenige. Diejenigen mit langen Haaren trugen wallende Gewänder in bunten Farben und hatten eine felsenfeste Einstellung. Was trug sie? Den Alltag trug sie. Schwer, aber kugelsicher. Hier konnte ihr nichts passieren. Keine Aufregung, keine Angst, kein Scheitern. Sie schüttelte sich.

»Das war’s dann wohl«, hatte ihre Freundin an ihrem Runden vor zwei Wochen geseufzt. »Jetzt muss ich schauen, dass ich mein Hirn zusammenhalte.«

Anne schnaubte wieder und dachte an all die berühmten Menschen, die überhaupt erst im Alter zur Hochform aufgelaufen waren. Nichts war vorbei. Gar nichts. Nicht in ihrem Leben.

Wut ballte sich zusammen wie ein Gewitter am Horizont. Eine Wut, die entstand, wenn man sich selbst nicht ernst nahm. Altbekannte Wut. Anne ließ sie kommen, suchte keinen Schutz. Diesmal nicht. Sie würde vor ihren Gefühlen nicht davon laufen. Kein Unwetter umlenken oder Ärger verschlucken, bis sie daran erstickte. Lächeln, obwohl sie weinen wollte, freundlich sein, wo sie lieber Teller an die Wände geworfen hätte.

Drei Uhr sechsundvierzig. Anne riss das Fenster auf, packte den Wecker und entledigte sich seiner mit einem gekonnten Wurf. Sie schloss das Fenster, löschte das Licht und tastete sich durch den dunklen Flur ins Kinderzimmer. Arbeitszimmer, verbesserte sie sich selbst. Ihren Schreibtisch hatten sie hinein getragen, als das Haus leer wurde. Die Lampe brannte noch, die Papiere lagen ordentlich gestapelt auf der rechten Seite. Anne ging zur Couch, bückte sich und schob ihre Hand darunter, bis sie den Griff ihres Koffers ertastete. Sie zog ihn hervor, öffnete ihn, prüfte mit einem Blick den Inhalt, wie sie es schon viele Male vorher getan hatte. Es war alles da. Sie zog den Laptop vom Schreibtisch und legte ihn zu den anderen Sachen. Jetzt. Die Zügel in die Hand nehmen, das Leben packen, fest, sodass es nicht entkommen konnte, und es in eine neue Richtung lenken. 

Auf Zehenspitzen schlich sie zum Schlafzimmer, steckte den Kopf durch den Türspalt. Torsten schnarchte leise. Sie konnte seinen Haarschopf erkennen. Sehen konnte sie es nicht, aber sie wusste es genau: Sein dunkles Haar war nur von wenigen grauen Spuren gezeichnet. Er sah immer jung und dynamisch aus, als ob die Zeit an ihm vorbei tropfte. Sein Anblick versetzte ihr einen Stich und eine Flutwelle von Erinnerungen durchschwemmte ihren Körper. Ihre Augen brannten. Jede Faser kannte ihn. War an ihn gewöhnt, mochte ihn. Und dennoch … Anne schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. In seinem Blick beim Abendessen hatte sie gesehen, dass er ihre Pläne ahnte. Kein Wort hatte er über die Lippen gebracht. Sie schlich zur Garderobe, warf sich eine Jacke über, nahm ihren Koffer und trat hinaus. Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.