Manchmal treffen sich zwei Seelen und berühren sich im Moment der Begegnung, nur um wieder auseinanderzugehen. Zurück bleibt eine kaum wahrnehmbare Spur. Der Weg ist ein anderer. Die Perspektive ändert sich, es ist nur eine leichte Verschiebung, aber die Welt ist nicht mehr, wie sie vorher war.

Tatjana Borisowna saß im Petersburger Sommergarten auf einer Bank, eine rote Strickjacke hing lose über ihren Schultern. In der Hand hielt sie ein Buch. Ihr Blick war nicht auf die Seiten konzentriert, sondern schweifte in beide Richtungen den Weg entlang. Sie versuchte, ihre Freundin auszumachen, auf die sie seit einer guten Viertelstunde wartete. Ob sie das Treffen vergessen hatte? Spatzen hüpften vor ihr hin und her, pickten etwas vom Boden auf. Spaziergänger, meist zu zweien oder zu dreien, passierten die Bank und ließen sich die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Es war sehr warm, aber der Winter lauerte hinter der nächsten Ecke, um dem Frieden mit Schnee und Sturm ein Ende zu setzen.

An der Wegbiegung erschien zwischen den Paaren und Gruppen von Spaziergängern ein junger Mann. Tatjana starrte ihn an, konnte ihren Blick nicht abwenden. Eine Aura von Traurigkeit umhüllte ihn. Er trug zerrissene Hosen, die Haare widersetzten sich jeglicher Ordnung. Nur der lange schwarze Mantel, den er offen trug, erinnerte an ein präsentables Kleidungsstück. Mit Zielsicherheit hielt er auf Tatjana Borisowna zu.

Zwischen Tatjanas Augen erschien eine steile Falte. Als er sich auf die Bank setzte, rutschte sie unwillkürlich an das andere Ende. Sie mochte derartige Störungen nicht. Sein Blick jedoch hielt sie gefangen, es war ihr unmöglich, aufzustehen und zu gehen.

»Hab keine Angst«, sagte er. »Ich weiß, ich sehe zum Fürchten aus.« Seine weiche, warme Stimme stand in krassem Gegensatz zu seinem Aussehen. Tatjana erkannte ein edles Gesicht mit hohen Wangenknochen, kleinen Grübchen neben dem Mund und Lachfalten um die Augen. Die Augen selbst waren dunkelbraun, fast schwarz, und warme Freundlichkeit leuchtete aus ihnen. Ihr Blick wurde in ihn hinein gesogen, als wäre er magnetisch. Etwas traf sich, berührte sie.

Was nur hat er durchgemacht?, fragte sie sich.
»Nichts, nichts«, sagte er, als habe er ihre stumme Frage gehört, schaute weg und das Band brach. Doch dann wandte er sich ihr mit einem Ruck zu. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, die Freundlichkeit verschwunden. Hass, Wut und Verzweiflung malten ein anderes Bild.

»Hast du von den Terroranschlägen in Moskau gehört? Wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden?«
Tatjana nickte. Wer hatte nicht davon gehört? Sie überlegte kurz, es war einige Monate her, über ein halbes Jahr bestimmt, aber die Widerlichkeit dieses Verbrechens steckte ihr tief in den Knochen.
Der Mann sprach nicht weiter, starrte sie eine Weile an, sagte endlich: »Ich habe in einem dieser Häuser gewohnt.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Meine Familie ist …« Er brach ab. Schweigen folgte. Tatjana wurde von seinem unbändigen Schmerz überrollt. Sie rutschte näher.
»Wer?«, fragte sie leise, »alle?«
Er nickte. »Mama, Papa, meine zwei Schwestern und meine Oma.«
Sein Aussehen, der süßliche Geruch, den er ausströmte, der Schmutz, alles verlor an Bedeutung. Sie rutschte neben ihn und griff nach seinen Händen. Trauer und Pein strömten wie ein Fluss zu ihr herüber.
»Wie heißt du?«, flüsterte sie.
»Maxim.«
»Und du? Maxim? Warum bist du hier?«
Seine Augen verdunkelten sich. »Ich habe mit ihnen gestritten an dem Abend, bin weggegangen, raus, durch die Straßen gelaufen, die ganze Nacht. Sie müssen sich schrecklich gesorgt haben. Moskau bei Nacht, du weißt schon … Am nächsten Morgen komme ich nach Hause, und …« Ein tiefer Schluchzer stürzte aus seiner Kehle. »Es waren nur noch Trümmer da. Und ein Haufen verzweifelter Menschen. Früh um fünf wurden diese Sprengsätze gezündet …« Er brach ab.
Tatjana hielt die Verbindung mit Augen und Hand, ließ ihn reden. Hörte von dem Chaos, wie sich niemand um ihn gekümmert hatte, wie er sich nicht hatte ausweisen können, da sein Pass in seinem Zimmer gelegen hatte. Wie ihn keiner identifizieren konnte, weil er erst seit kurzer Zeit dort gewohnt hatte. Es gab keine Freunde und Verwandten. Wie ihm niemand glauben wollte. Er wurde wie ein Obdachloser behandelt, der die Gunst der Stunde nutzte, um an eine neue Identität zu kommen. Sein Name erschien auf der Liste der Toten.
Er zitterte, als all dies aus ihm herausbrach.
»Maxim«, sagte Tatjana und drückte seine Hände fester. »Wo kommst du her? Gibt es dort niemanden, der dich kennt?«
Maxim nickte wage Richtung Osten. »Von weit her. Fevralsk. Nein, es gibt keine Verwandten. Wir sind alle zusammen nach Moskau gegangen, nachdem mein Vater eine Stelle gefunden hatte.«
»Freunde? In Fevralsk?«
Er schüttelte den Kopf.
»Was machst du hier in Petersburg?« Noch immer lagen seine Hände schwer in den ihren.
Maxim starrte sie verloren an. »Ich … ich weiß es selbst nicht. Ein Lastwagenfahrer hat mich mitgenommen. Ich … ich wollte einfach nur weg.«
»Maxim …«
»Ich habe niemanden mehr«, sagte er, »ich habe mich nicht einmal verabschiedet, ich bin im Streit gegangen, so dumm. Meine Mutter hat immer gesagt, man soll das Haus nie im Streit verlassen… und jetzt … sie sind fort. Sie sind alle fort. Ohne Umarmung oder Gruß.« Langsam schüttelte er den Kopf.
Sie drückte seine Hände. Versuchte, ihm Zuversicht und Wärme zu schenken. Du hast mich, sagten ihre Augen. Er senkte den Blick. Lange saßen sie da. Schweigend. Nur der Wind rauschte in den Blättern.
»Danke«, flüsterte er und stand auf. Dann ging er, nein, rannte den Weg entlang, bis er hinter der Biegung verschwunden war.
Tatjana sah ihm nach, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen.

Jeden Tag kam sie in den Park mit dem Wunsch im Herzen, ihn wiederzusehen. Sie saß auf der Bank, starrte durch die Blätter auf das graue Wasser der Fontanka, das träge der Newa entgegenfloss, und wartete, ihre Sinne waren erfüllt von seiner Erscheinung, seinen Augen, seinem Schmerz. Er kam nicht, obwohl sie meinte, seine Anwesenheit zu spüren. Oft sah sie sich um, glaubte, hinter Büschen und Bäumen seinen schwarzen Mantel zu sehen. Sie ging kleine Runden, fand nichts außer Stille und Leere.
Fünf Tage lang kam sie. Ihre Hoffnung schwand, ihre Trauer nahm zu, im gleichen Maße eine unbändige Wut. Am sechsten Tag fand sie ein Stück Papier auf der Bank. ‚Für Dich‘, stand in zittrigen Buchstaben drauf. Sie faltete das Blatt auseinander.
»Meine Liebe,« las sie, »ich weiß, dass Du jeden Tag kommst, und hoffst, mich zu treffen. Ich danke Dir für Deine Beharrlichkeit, für Deinen Willen, mir zu helfen. Vielleicht wirst du irgendwann verstehen, dass ich nicht zu dir kommen kann. Es gibt nur einen Weg für mich. In Liebe, Maxim.«

Lange wollte sie nicht begreifen, was der Brief ihr sagte, was Maxim ihr hinterlassen hatte. Ihr war, als hätte sie ihren besten Freund verloren. Sein Schmerz war zu dem ihren geworden und kroch durch ihre Seele. Drei weitere Tage kam sie, zündete Kerzen an und hielt Wache. Fühlte den Kummer, seinen und ihren, fühlte Maxim, er war da, dicht bei ihr und doch unerreichbar. Endlich wurde ihr leichter, sie öffnete ihre Seele und ließ ihn ziehen.
»Geh, Maxim, geh«, flüsterte sie. »Ich hoffe, du kannst die Deinen finden.«
Tiefer Friede legte sich über sie, wie dichter Schnee die Welt bedeckt.

Sie zog die rote Jacke enger um ihre Schultern und verließ den Park. Diesmal kehrte sie nicht zurück.