Babette Kröger legte den Stapel aus Laptop, Notizbuch, diversen Büchern und Schreibzeug auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Die wenigen Schritte von ihrem Büro in die Bibliothek hatten ihren Kopf zum Kochen gebracht. Am liebsten wäre sie in den Park gegangen und hätte sich unter einen dichten Baum geworfen, bis es Zeit war, die Kinder vom Hort abzuholen. Aber dieses verdammte letzte Kapitel ihres Romans musste fertig werden. Seufzend klappte sie ihren Laptop auf. Von den Studenten, die normalerweise die Tische bevölkerten – oft nur in Form ihrer Bücher, die besitzergreifend herumlagen -, waren heute nicht viele zu sehen.

Babette drapierte alle notwendigen Unterlagen um sich herum und öffnete die Datei. Lange starrte sie auf die wenigen Absätze, die dort standen. Sie tippte ein paar Worte, löschte sie weg, versuchte es mit anderen. Die Buchstaben tröpfelten auf den Bildschirm, zäh wie Sirup, ergaben keinen Sinn. Sie nahm ein Buch, zwang sich zu Konzentration, las, analysierte. Ihr Kopf schmerzte, sie hatte ein Drücken auf der Brust, als hätte es sich jemand dort gemütlich gemacht.

Mach schon, du kannst das! Sie legte die Hände auf die Tastatur. Nahm sie wieder weg, lehnte sich zurück, öffnete ihre Tasche und tastete nach dem MP3-Player. Inspiration. Dringend. Sie stopfte sich die Kopfhörer in die Ohren und zappte durch ihre Musiksammlung. Mozart? Beethoven? Auf keinen Fall. Brahms? Vielleicht. Aber was? Nein. Zu kompliziert. Am Ende der Alben hatte sie ein paar einzelne Lieder gespeichert. Scarborough Fair. Ja, das war’s. Sie drückte Play und schloss die Augen.

Are you going to Scarborough Fair
Parsley, Sage, Rosemary and Thyme.
Remember me to one who lives there.
Once she was a true love of mine …

Drei Minuten Erlösung. Dann Repeat. Die Musik durchströmte ihre Nervenbahnen, erreichte jede Zelle ihres Körpers.

Repeat.

Sie starrte aus dem Fenster. Die Blätter der Bäume standen reglos vor dem blassblauen Himmel. Aus einer tiefen Ecke ihrer Seele drückten Tränen nach oben. Diese Harmonien. Die Welt wandelte sich, bewegte sich in eine andere Sphäre. Alles wurde neu und blieb doch, wie es war.

Repeat.

Nach dem vierten Durchlauf fühlte sie sich befreit. Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln. Sie lächelte.

Repeat.

Sie legte ihre Hände zurück auf die Tastatur, betrachtete das Blatt auf dem Bildschirm. Jetzt! Sie fühlte, wie sich Worte ihren Weg nach oben bahnten.

In diesem Moment nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie blickte auf und sah, wie jemand Schritt für Schritt die Treppe nach oben stieg. Babette erstarrte. Sie sah eine Frau in einem altmodischen ockerfarbenen Kostüm, ein braunes Tuch hatte sie um den Hals geschlungen. Der Schädel war von einer fast durchsichtigen Schicht Haut überzogen. Babette gefror das Blut in den Adern, sie konnte kaum atmen. Dürre Beine ragten unter dem Rock hervor, das Jackett schlackerte um Arme und Oberkörper, als hinge es an einem Kleiderbügel, sandfarbene Haare klebten am Kopf wie ungegossener Schnittlauch.

Are you going to Scarborough Fair.

Babette sah der Gestalt hinterher, wie sie hinter einem Bücherregal verschwand. Italien fiel ihr ein. Mitten am Strand war ihr eine abgemagerte junge Frau entgegengekommen. Sie trug einen fast nichts bedeckenden Bikini. Babette hatte ihre Augen kaum von diesem Knochengerüst mit Hautüberzug wenden können. Mitten im wärmsten Sonnenschein hatte sie eine Grabeskälte überlaufen, die ihr heute noch Angst machte. Sie schüttelte ihren Kopf, um das Bild loszuwerden. Und dann die Begegnung im Kaufhaus vor zwei Wochen. Babette hatte sich ein paar Hosen mit in eine Umkleidekabine genommen und versucht, sich in das kleinere Modell zu zwängen. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen sah sie eine junge Gestalt in einem hauchdünnen Kleidchen vorbeischweben. Haut und Knochen unter der weißen Seide. Und wieder diese Kälte.

Tell her to make me a cambric shirt.

»Ist hier noch frei?«, drang eine tiefe Stimme durch die Musik an ihr Ohr. Sie fuhr zusammen. Die Dame in dem ockergelben Kostüm stand neben ihr. Babette griff sich an die Brust und atmete tief durch.

»Natürlich«, krächzte sie und schob eilig ihre Bücher zusammen.

»Lassen Sie nur«, sagte die Dame, während sie sich ihr gegenüber niederließ. »Ich brauche nicht viel Platz.«

Babette begann zu frieren. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie nahm das Buch über den Gebrauch von Heilpflanzen im Mittelalter, hielt es vor ihr Gesicht und begann zu lesen. Langsam beruhigte sich ihr Herz.

Parsley, Sage, Rosemary and Thyme.

Babette Kröger«, sagte die Frau. »Ich bin gekommen, dich mitzunehmen. Bist du bereit?«

Babette ließ das Buch fallen. Seit Wochen las sie über Mittel und Wege, wie sich die Menschen im Mittelalter den Tod vom Hals hielten. Ihr war klar, wen sie vor sich hatte. Eine eigenartige Ruhe durchströmte sie, der Lauf der Welt verlangsamte sich, ihr war, als stiege sie aus und die Welt drehte sich alleine weiter.

Without no seams or needlework.

Babette klammerte sich an den Mp3-Player. »Komm«, sagte die Frau freundlich. »Es ist Zeit.«

Sie nahm den Kopfhörer von den Ohren und legte ihn zu den anderen Sachen auf den Tisch. Ihr war, als zöge jemand an ihr, sie konnte sich kaum halten. Gehen, warum nicht gehen, der schönen Stimme folgen. Was hielt sie hier? Sie stapelte ihre Bücher, akkurat Ecke auf Ecke.

Die Dame stand auf. »Du kannst alles liegen lassen«, sagte sie. »Folge mir.«

Babette erhob sich, sie sah nichts, hörte nichts außer dieser Stimme. Sie entfernte sich von dem Tisch, es rauschte um sie herum. Ein lauter Schlag, als ob ein Buch fiele, ertönte hinter ihr. Sie drehte sich um und sah ihr Notizbuch auf dem Boden. Drei Kindergesichter lachten ihr zu. Sie schienen aus dem Bild auf dem Buch zu winken. Ein Schmerz fuhr ihr durch die Brust, sie stolperte. Die Gesichter begannen vor ihren Augen zu tanzen. Tassilo, Marie, Katharina. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, stemmte die Füße fest in den Boden, wollte nicht weitergehen. Ihr war, als kämpfe sie gegen stählerne Seile. Sie arbeitet sich zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich.

»Ich habe heute keine Zeit«, presste sie hervor. »Ich muss in einer halben Stunde die Kinder abholen.«

»Das sind nicht länger deine Belange.« Die Frau streckte ihre Hand über den Tisch und wollte Babette am Arm nehmen. Ein Schwall von Eiseskälte durchdrang sie. Sie rutschte auf dem Stuhl rückwärts.

Das sind sehr wohl meine Belange. Ihre allerdings ganz und gar nicht.« Mit großer Anstrengung griff sie nach ihren Sachen, packte sie ein, warf sich den Rucksack über die Schulter, drehte dem Knochengerüst den Rücken zu und ging. Sie würde die Kinder sofort holen. Was saß sie hier in der Bibliothek herum?

Ihre Füße schienen mit Blei gefüllt. Sie schleppte sich zur Treppe. Studenten hasteten an ihr vorüber.

»Du willst doch nicht etwa vor mir davon laufen?« Auf einmal klang die schöne Stimme blechern.

Doch, genau das wollte sie. Und zwar so schnell wie möglich. Als sie das Erdgeschoss erreicht hatte, wendete sie sich Richtung Ausgang. Sie näherte sich der automatischen Glastür, langsam, Schritt für Schritt. Beinahe wäre sie gegen das Glas gestoßen. Die Tür hatte sich nicht geöffnet. Ihre Hand zitterte, als sie sie anhob und sie vor der Lichtschranke hin und her bewegte. Neben ihr näherte sich eine Studentin. Die Tür glitt auf, das Mädchen trat hindurch. Ein warmer Lufthauch streifte Babettes Gesicht. Fast lautlos glitt die Tür wieder zu. Babette schloss für ein paar Sekunden die Augen. Dann trat sie näher an die Scheibe heran. Kalt und fest lag das Glas an ihren Handflächen. Was ging hier vor sich? Von draußen kam ein Mann. Anstandslos öffnete sich die Tür. Babette sammelte alle Kraft und wagte einen Sprung. Es tat einen dumpfen Schlag, als sie mit der Stirn gegen das Glas prallte.

»Lass das«, hörte sie die Stimme hinter sich. Willenlosigkeit kroch in ihre Glieder.

Nein, brüllte es in ihrem Kopf. Nein! Ich habe hier zu tun.

Sie konnte kaum Atem holen. Mit aller Macht stemmte sie sich gegen den Sog, der von der Frau ausging.

»Verschwinden Sie«, fauchte Babette und drehte sich auf dem Absatz um. So schnell sie konnte, ging zwischen den Regalen hindurch in den hinteren Teil der Bibliothek. Wo war der Notausgang? Wild sah sie sich um, suchte nach dem grünen Zeichen. Dort. Am anderen Ende. Sie schlich durch die Gänge. Langsam erst, dann schneller. Sie fühlte die Präsenz der Frau hinter sich. Schneller, bis sie rannte. Die Tür lag vor ihr, ein Querbarren, der das leichte Öffnen ermöglichen sollte, davor. Babette rannte mit voller Wucht dagegen, die Hände nach vorn ausgestreckt. Ein wilder Schmerz durchfuhr ihre Handgelenke, als sie zurückprallte. Wieder hörte sie das blecherne Lachen. Babette drehte sich um.

»Lassen Sie mich endlich in Ruhe«, zischte sie. »Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben. Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe nicht darum gebeten, geholt zu werden.«

»Nicht?« Die Augen verzogen sich zu zwei schmalen Strichen.

Babette schwieg. Wie aus dem Nichts stiegen die dunklen Gedanken in ihr hoch. All die Momente zogen an ihrem inneren Auge vorbei, an denen sie sich gewünscht hatte, nicht weiter leben zu müssen. Schwarze Gedanken, trostlos, ohne Hoffnung. Sie meinte die Kälte zu spüren, die ihr in die Knochen gekrochen war, als sie Minute um Minute am Balkon gestanden und in die Tiefe gestarrt hatte. Der Abgrund hatte sie gerufen. Und doch war sie jedes Mal unfähig gewesen, sich zu bewegen. Tassilo, Marie, Katharina. Kinderlachen, Kinderweinen, kleine Ärmchen, die sich ihr um den Hals schlangen, Körperchen, die sich an sie drückten. Tränchen, die getrocknet werden mussten.

»Ich kann nicht gehen«, sagte Babette leise.

»Du wolltest gehen.«

»Ich weiß.«

»Komm«, flüsterte die Frau zärtlich. »Du musst dich nicht weiter plagen. Du hast dir zu viel vorgenommen.«

Süß klang die Stimme. Lockend. Nein, sie musste nicht bleiben. Jede Sekunde ihres Lebens hatte sie die Wahl. Bleiben oder gehen. Tun oder nicht tun. Sprechen oder schweigen.

»Es ist nicht mehr zu viel«, sagte Babette.

Die Frau zog eine Augenbraue nach oben.

»Ich bin angekommen. In meinem wahren Leben.« Babettes Stimme nahm mit jedem Wort an Kraft zu. »Ich arbeite, ich bin auf niemanden angewiesen. Ich veröffentliche Bücher, meine Kinder sind toll. Mein Leben läuft gut. Du bist zu spät.« Wut stieg in ihr auf. »Warum hast du mich nicht geholt, als ich unzählige Male am Balkon stand und um Erlösung gefleht habe?«, brüllte Babette plötzlich. »In genau diesem Moment hättest du mich holen sollen. Nicht drei Jahre später. Lächerlich. Einfach lächerlich.«

Das Gesicht der Knochenfrau verlor an Kontur, verschwamm vor ihren Augen.

»Ich musste wissen, ob du es ernst meinst«, krächzte die Stimme.

»Ich habe es ernst gemeint.« Babette schlug mit der flachen Hand gegen eines der Regale. »Ich habe es so verdammt ernst gemeint. Ich konnte keinen Meter weitergehen in dem Leben, das ich damals führte.«

»Ich weiß.«

»Du bist viel zu spät. Geh! Ich kann meine Kinder nicht alleine lassen. Nicht nach all dem, was sie haben durchmachen müssen.«

Babette drehte sich um. Am anderen Ende des Raumes sah sie die Glastür am Ausgang. Dahinter erahnte sie die brütenden Hitze. Sie rannte los. Rannte schneller, im Laufen holte sie sich den Rucksack nach vorne. Verschanzte sich dahinter. Als sie die Glasscheibe erreichte, setzte sie zum Sprung an.

***

»Mama …?« Hände krochen unter ihre Bettdecke, von rechts, von links. »Mama, bist du wach?«

Die Stimmen. Stimmchen. Drei an der Zahl. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

»Hey ihr«, flüsterte sie.

»Mama ist wach!«

Körperchen drückten sich an sie. Ärmchen umschlagen ihren Hals.

»Ja, ich bin wach.

»Frau Kröger«, hörte sie eine Stimme weiter hinten im Zimmer. Dunkel klang sie. Freundlich. »Wenn es Ihnen zu viel ist, sagen Sie bitte Bescheid.« Sie suchte die Quelle der Stimme. Machte einen weißen Kittel aus. War sie im Krankenhaus?

»Sie hatten einen Schwächeanfall, Frau Kröger.«

Schwächeanfall? Babette hob ihre Hände, suchte sie nach Schnitten ab. Die Glasscheibe … war sie nicht mitten durch … ?

»Man hat Sie neben dem Eingang der Bibliothek gefunden. Sie sind ohnmächtig zusammengebrochen.«

Babette lachte. Befreit.